Endlose Formen (wunderschön), böse Elfen (leuchtend blau) – Nightwish, Arch Enemy und Amorphis im Dreiklang

Zenith, 01.12.2015
 

„Die Floor ist die Größte!“ Diese Aussage des kundigen Beobachters Sebbes bezog sich zwar eher auf die Körpergrößenverhältnisse – bei  der abschließenden Aufstellung überragt Frau Jansen in der Tat sichtlich ihre sämtlichen Mitstreiter – darf aber auch weiter gefasst werden. Nach dem Abschied der eher glücklosen Anette Olzon, die in ihrer Aufgabe weitgehend chancenlos blieb, brachte der fliegende Wechsel hin zur in der Szene bestens bekannten und versierten Dame das Flaggschiff der female fronted Phalanx wieder auf Kurs. Mit einem berauschenden Wacken-Auftritt kehrten sie 2013 zur alten Stärke zurück und sind mit dem neuen, mehrfach mit Edelmetall ausgezeichneten Studiowerk unterwegs, um Europa auf der Endless Forms Most Beautiful-Tour zu beglücken. Dass Tuomas und seine Freunde live immer eine Bank sind, hat sich offenkundig herumgesprochen, denn die Ansetzung ist schon seit längerem ausverkauft. Was vielleicht auch am Gesamtpaket liegen mag, denn mit Arch Enemy und Amorphis hat man sich gleich zwei Namen mit an Bord geholt, die ihrerseits überhaupt nicht unspannend daherkommen.

Wir pilgern also frohgemut in Richtung Zenith, wo der Einlass fast schon generalstabsmäßig abläuft: in kleinen Grüppchen dürfen wir hinein, alles bestens organisiert. Kühles Zeug präsentiert nützliche Konzert-Tipps, Teil 1 (ein kostenloser Service exklusiv für unsere Leser): bei vollem Zenith gleich ganz nach vorne wandern, rechts und links gibt es Bändchen für den Bereich vor der ersten Absperrung. Somit lässt es sich dann durchaus kommod im vorderen Achtel stehen, ohne das Gewicht von 5000 Leuten hinter sich zu wissen. Und die Bändchen sind auch schick.

So können wir dann ganz in Ruhe beobachten, wie Schlag 7 Uhr die finnischen Stil-Chamäleons von Amorphis Bühne entern, die ein durchaus beeindruckendes Band-Backdrop ziert. In ihrer langen Karriere haben sie schon vieles getestet, von Death über Prog bis hin zu Folk-Einsprengseln, mal mit und mal ohne Grunz-Einlagen, und heute Abend bekommen wir von allem einen feinen Querschnitt serviert. Fronter Tomi Joutsen agiert (wie gewohnt) an einem spaßigen Mikrofon mit langem Kabel und ca. drei Griffen, in das er wahlweise klar und per growl intoniert und schwingt dazu seine (ungewohnt) nicht mehr als Dreadlocks geflochtene Matte. Die Begleitungsfraktion unter der Führung der Gitarristen Tomi Koivusaari (der früher selbst den Grunzdienst versah) und Esa Holopainen (Bandgründer, nicht verwandt oder verschwägert mit dem guten Tuomas, der später auftritt) zaubert den Klangteppich famos herbei, so dass die Mischung aus Death, Melodic und Folk bei den Angereisten (darunter auch Kollege Sebbes) bestens zündet. Geboten ist viel Material vom neuen Album “Under The Red Cloud“ (im Übrigen das Artwork, welches auch das Backdrop ziert. Irgendwie müssen wir mal gegen diese vielen Anglizismen vorgehen. Dazu committen wir uns jezt), darunter gleich als Auftakt „Death Of A King“ und im weiteren Verlauf „Bad Blood“.  Dann gibt es noch eine nette Überraschung, als zu „Sky Is Mine“ und „Silver Bride“ niemand anders als Marco Hietala die Bühne entert und den guten Tomi vokalistisch unterstützt. Man kennt sich eben in Finnland. Nach insgesamt einer guten halben Stunde verabschieden sich die Herren mit einer rundum gelungenen Vorstellung – „die können wiederkommen“, gibt Sebbes zu Protokoll. Wir notieren das.

Durfte man dennoch schon bei Amorphis hinterfragen, ob denn das genau der richtige Appetithappen für die angereiste Anhängerschaft ist, können sich die Schlachtenbummler jetzt auf eine Überraschung der eher ruppigen Art gefasst machen. Als nämlich das melodische Todeskommando von Arch Enemy auf die Meute losgelassen wird, reibt sich der eine oder andere, der Nightwish aus der Pro 7-Werbung kennt und die jetzt anstehende Kombo vielleicht von einem netten Bildchen, das man sich schnell im Vorfeld angeschaut hat, doch verdutzt die Augen. Nach dem kurzen Intro in Form der Khaos Overture gehen Michael Ammott und seine Kumpane mit „Yesterday’s Dead And Gone“ nämlich gleich in die vollen. Wir wissen natürlich genau, was uns erwartet: hier wird nicht gesäuselt. Nein. Eine kleine, hübsch anzusehende Person mit blauen Haaren wird uns eine Stunde lang ganz fürchterlich anschreien. Und das werden wir wieder hervorragend finden. Nicht weil wir seltsam sind, sondern weil Alissa White-Gluz, die 2014 die Aufgaben des Front-Rottweilers von Angela Gossow übernahm, das ganz vorzüglich kann.

Allen Zweiflern hat die nicht mehr ganz neue Frontfrau schon im letzten Jahr, als man im Paket mit Kreator und Sodom unterwegs war, unzweifelhaft deutlich gemacht, dass sie in Puncto graziöser Gewalttätigkeit Frau Gossow in nichts nachsteht. Das unterstreicht sie auch heute wieder: gekleidet wie eine infernalische Elfe (wahlweise einsetzbar bei Lordi), macht sie uns den Derwisch, schüttelt ihre blaue Mähne, schaut dräuend ins Publikum, bellt die Vocals heraus wie nichts Gutes und ist eine Sekunde später in den Ansagen freundlich und zuvorkommend. Mit „War Eternal“ feuern sie den famosen Titeltrack des nach wie vor aktuellen Album unters Volk, das nach der ersten Schrecksekunde auftaut und dem Treiben mit wachsender Zustimmung folgt. Was bei Arch Enemy immer wieder beeindruckt, ist die unglaubliche melodiöse Präzision, die Ausgefeiltheit der Songs und die vollkommen passende Mischung aus rabiatem Riffing und Eingängigkeit, aufgrund derer Experte Sebbes immer wieder gerne feststellt, das sei eigentlich eine Power Metal Band, die nur so tut als ob sie melodischen Death spielt. Ein wenig auf das heutige Publikum hat man sich allerdings in der Tat ausgerichtet, mit „Stolen Life“ und „You Will Know My Name“ sind auch die – im Rahmen des Gesamtwerks – weniger brachialen Nummern am Start. Das gibt uns Zeit, schnell zu beleuchten, wie man zu dieser Zusammenstellung kommt: als Anette Olzen auf ihrer letzten Nightwish-Gastspielreise krankheitsbedingt ausfiel, sprangen für ein Konzert kurzerhand die Sängerinnen der damaligen Supportband Kamelot ein – darunter eben auch Frau Gluz, die mit Textblatt und Unterstützung des Publikums eine durchaus passable Figur dabei machte (das alles ist zu bestaunen in der absolut empfehlenswerten Doku „Learn the setlist in 24 hours“). Wie gesagt – man kennt sich eben und reist auch weiterhin gerne gemeinsam. Aber jetzt genug gekuschelt, mit „As The Pages Burn“ versohlen sie uns jetzt gepflegt den Hintern, bevor Alissa dann zum Mega-Stampfer „Under Black Flags We March“ standesgemäß die schwarzen Fahnen schwenkt. Sehr genial. Zu „No Gods, No Masters“ ruft sie den kollektiven Hüpfalarm aus, bevor dann „Nemesis“ ein grandioses Set beschließt. Man bedankt sich artig, macht ein Foto mit der Menge und hinterlässt einen bleibenden Eindruck - auch wenn es mit einem „echten“ Arch Enemy-Publikum sicherlich mehr zur Sache gegangen wäre und mein persönlicher Favorit „Bloodstained Cross“ nicht drankam, sind wir mehr als entzückt.

So, jetzt aber aufgepasst, liebe Kinder, jetzt beginnt gleich die Storytime, und die Spannung im Saal ist durchaus mit Händen zu greifen, als ein schwarzer Vorhang hochgezogen wird und dahinter emsiges Umbauen stattfindet. Licht aus, Spot an, ein Paukenschlag, und wir begeben uns für die kommenden zwei Stunden auf eine berückende, bezaubernde Reise, auf die uns eine hervorragend aufgelegte Formation mitnimmt. Nightwish starten ihr Set buchstäblich mit einem Knalleffekt: „Shudder Before The Beautiful“ ist eingeleitet von einer kleinen Explosion, und als wir uns sortiert haben, bietet sich ein wohlig bekanntes Bild. Cheffe Tuomas thront links mit Keyboard und Zylinder als Zeremonienmeister, Basspirat Marco (wirkt irgendwie leichter und kleiner als sonst) schwingt seinen Zopfbart, und Gitarrero Emppo darf sich über einen gut nach vorne gemischten Saitensound freuen. Der Klangteppich kracht ordentlich, für die Lokalität sauber inszeniert, die Lightshow und Dimension der Bühne beeindruckt. Das ist schön, das sind Voraussetzungen, die erfüllt sein wollen, sicherlich. Aber jetzt, da kommt sie: alle Augen auf Floor Jansen, die in einem feschen Lederkleidchen und Siegfried aus den Nibelungen-Stiefeln die Szene betritt und gleich in den ersten Zeilen untermauert, warum Nightwish mit ihr einen mehr als nur glücklichen Fang gemacht haben.

Frau Jansens Stimme fügt sich harmonisch-nahtlos in die episch-bombastische Soundkulisse und kann sich in dem Ansturm von Keyboard und Gitarre so behaupten, wie es für diese Kombo unabdingbar ist. Dazu kommt noch ihre enorme (bitte vergleichen Sie den Anfang) Bühnenpräsenz, die ihre jahrelange Erfahrung mit ihren Bands After Forever und Revamp in jeder Sekunde verrät. Jetzt geht auch die Menge frenetisch mit, überall verzückte Gesichter, Rührung allenthalben – das ist emotional, großes, inszeniertes Klangkino, und genauso muss es auch sein. Nachdem sich Floor über eine „sold out night“ freut, folgt mit „Yours Is An Empty Hope“ gleich die zweite Nummer vom aktuellen Album, die dann derartig mit Pyro-Effekten von unten, oben und der Seite begleitet wird, dass wir auch deshalb ins Schwitzen geraten – nicht zuletzt der Vorsitzende des Rainer-Calmund-Fanclubs, der sich in nächster Nähe zu uns gesellt, vermutlich um „lecker Konzertsche“ zu betrachten (was er allerdings lange vor Ende schon abbrechen muss. Wir vermuten, sein Flieger ging). Vollends gefangen nehmen sie uns dann mit dem wundervollen „Everdream“, bei dem der Vergleich mit Tarja dann endgültig in die Schublade muss: Floor macht den Song zu ihrem eigenen, leicht rockiger als im Original, mit ordentlich Drum-Einsatz und vor allem jeder Menge Atmosphäre (der eine oder andere Eintrag in einschlägigen sozialen Medien wird tags darauf von „zum Weinen schön“ reden).

Zu einem passenden Video-Hintergrund aus Buchstabenwürfeln folgt das wunderbare, hervorragend gebrachte „Storytime“, bevor dann mit „My Walden“ die Folklore in Form eines Elektro-Dudelsacks Einzug hält. Eine kleine Pause, die mir Zeit gibt, die Verzückung ein wenig zu verarbeiten. Und weil wir gerade so schön dabei sind, präsentiert uns Marco akustisch-solistisch das ebenfalls sehr folkige „The Islander“, und bei „Élain“ – dem Song, der auf der aktuellen Scheibe das ist, was „Nemo“ und „Amaranthe“ für die Vorgänger war – schlendert Floor entspannt umher und animiert die Menge sehr erfolgreich zum Einstimmen.   Dann ist allerdings wieder Schluss mit den Träumereien, ein ganz massives „Weak Fantasy“ und „7 Days To The Wolves“ schlagen durchaus harte Töne an. Weiter geht das Wechselbad mit den sehr entspannten „Edema Ruh“ – die nach Floors Worten erstmals in ganzer Besetzung dargeboten werden, „so this was a first time for you…was it good for you too?“…aber Frau Jansen, Sie sind mir aber eine!! – und dem groovigen „I Want My Tears Back“, bei dem Marco gewohnt stimmkräftig unterstützt und Floor zur kollektiven Tanzeinlage aufruft. Die Frage, ob denn sein Keyboard noch weitere „beautiful riffs“ zaubern könne, beantwortet Tuomas – mittlerweile ohne Hut und Jacke – zur allgemeinen Begeisterung mit den Anfangstönen von „Nemo“. Ihr vielleicht bekanntester Song wird, von Floor wahrhaft göttlich gebracht, gebührend abgefeiert – einfach nur wunderbar. Mehr fällt einem dazu schlicht nicht ein. „Do you want some oldies?“, werden wir nun gefragt –  ja doch, natürlich, aber dass sie uns mit „Stargazers“ ein Stück vom Zweitling Oceanborn kredenzen, damit hätten wir nun nicht gerechnet. Genial!! Auf der allgemeinen Wunschliste ganz oben dagegen dürfte der alte Kracher „Wishmaster“ stehen, und den servieren sie uns nun in der Klassiker-Runde ebenso. Das klingt irgendwie anders intoniert, vor allem im „master apprentice“-Teil, kommt aber immer noch gut rüber und triumphiert enorm.

Ist jetzt danach Pause, beginnt das alte Zugabenspiel? In keinster Weise, episch-ausladend feuern sie weiter mit dem hervorragenden „Ghost Love Score“ und dem schmissigen „Last Ride Of The Day“, das passend zum Imaginaerum-Album mit einem traumhaften Jahrmarkt-Hintergrund untermalt ist. Der Blick auf die Uhr zeigt schon jetzt eine Spielzeit nahe an der 2-Stunden-Grenze, und als Kollege Sebbes scherzt, jetzt könnten sie doch schon noch „The Greatest Show On Earth“ spielen…ja, dann machen sie genau das. Es gehört schon jede Menge Selbstsicherheit dazu, als Abschluss dieses ausladende, epische Stück zu setzen, das mit fast 25 Minuten aufwartet, die wir nun in ganzer Breite miterleben dürfen, eingeleitet von einem instrumentalen Part bis hin zur vollen Orchesterbreitseite, die den Abend dann aber endgültig beendet. „We Were Here!“, so entlassen sie uns, mit Song und Schriftbotschaft auf der Leinwand, in die Nacht, Zugaben wären vollkommen unpassend, das ist ein krönender Abschluss eines verzauberten Glanzpunkts. Und wisst Ihr, was das Beste ist? Wir sehen genau das Gleiche nochmal. Im Mai sind die nämlich wieder da. Als Headliner beim Rockavaria. Auch dann werden wir also sagen: we were here!