Unser Lied für München: Avantasia bringen Geisterlichter auf das Tollwood-Festival

Avantasia - Ghostlights World Tour
06.07.2016, Tollwood Festival
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Unglaublich, aber wahr: der wilde Tobi und seine Bande, auch genannt Avantasia, hatten vorher noch niemals in München Station gemacht. Und das, obwohl Herr Sammet ganz zu Beginn gleich (glaubhaft, lassen wir mal dahingestellt) versichert, München sei die attraktivste Stadt der Welt (ehrlich gesagt drückt er sich drastischer aus, aber das schreibt man nicht). Wenn also der Tross um den launigen Fronter mitsamt bunt gemischter Sängerschar endlich doch einmal vorbeischaut, sind wir natürlich dabei, in der Zeltstadt Tollwood, und erleben die fulminante Inszenierung des aktuellen Reißers „Ghostlights“ in Wort und Ton.

Dass Volksentscheide durchaus problematisch ausgehen können, das erleben unsere noch-Nachbarn der britischen Inseln gerade, aber auch wir konnten das leidvoll erfahren. Das kollektive Fernsehpublikum Deutschlands zog es ja bekanntlich vor, anstelle einer bunten Symphonic-Metal-Truppe doch lieber ein kleines Manga-Mädchen in den europäischen Schlagerwettbewerb ziehen zu lassen. Das Ergebnis ist bekannt: Germany – no points, letzter Platz. Na klasse! Da hätte unser guter Tobi zweifelsohne mehr gerissen, wovon er uns heute abend gleich an aller erster Stelle überzeugen will.

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Die Musikarena auf dem Tollwood-Gelände ist zwar nicht prall gefüllt, aber die 1000er-Marke ist sicherlich überschritten, als wir den fein blau beleuchteten, mittelalterlich angehauchten Bühnenaufbau bestaunen. Allzu heiß ist es heute nicht, und das ist auch gut so – einen ähnlichen Besuch im Schwitzkasten wie bei Megadeth letzte Woche brauchen wir nicht schon wieder…ohne Vorgruppe und äußerst pünktlich springen sie um ziemlich genau Schlag 19 Uhr hervor, natürlich zu den Takten ihres Grand Prix-Beitrags „Mystery Of A Blood Red Rose“, den unser Volk ja – siehe oben – verschmähte. Welch ein Frevel! Die Rhythmusfraktion steht wie eine eins, die Melodien schweben wunderbar, und the man himself Tobi – wie stets mit Wuschelfrisur und Zirkusdirektormantel - schraubt sich treffsicher in höchste Höhen. Ein formidabler Auftakt, auch wenn der Sound (und das wird sich im Verlauf des Abends leider nicht unbedingt bessern) nicht unbedingt das Maß aller Dinge ist – Schlagzeug zu laut, Gesang teilweise zu leise, die Höhen beißen in den Ohren und dass ein Zelt nicht unbedingt der beste Austragungsort für einen derartigen musikalischen Leckerbissen sein muss, ist auch verstanden. Jetzt begrüßt uns der Conferencier herzlich, sichert wieder zu, dass München ganz wunderbar sei, und – ich bin zutiefst enttäuscht – Amanda Somerville heute leider keine Zeit hat. Das ist bedauerlicherweise keiner von seinen Gags, die gehaltvolle Dame steht tatsächlich nicht auf der Bühne, aber mit der eleganten Marina (den Nachnamen habe ich nicht verstanden) hat man kurzerhand glücklicherweise mehr als nur kompetenten Ersatz gefunden.

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Weiter im Set geht’s sogleich mit dem Titeltrack vom neuen Album, einem Stück, das gesanglich in derartig hohen Sphären angesiedelt ist, dass ich launig feststelle, da wäre doch eigentlich ein gewisser anderer Kollege gefragt – und prompt erscheint auf der Balustrade hinter dem durchgängigen Geländer (ist die Bühne eigentlich nicht trittsicher?) in roter Lederjacke der Heldentenor Michael Kiske. Zu „Ghostlights“ liefern die Sänger sich ein packendes Duell in luftigen Vokalgefilden – mag sein, dass Kollege Kiske dem Metal zwischenzeitlich nicht mehr zugetan war, und auch dass er sein Müsli offenbar in der Megaportion anrührt: gesanglich unterstreicht der Herr einmal mehr, warum er in den späten 80ern Helloween in eine andere musikalische Liga katapultierte. Zu den Klängen von „Invoke The Machine“ entert dann ein weiterer Mitstreiter die Bretter: Ronnie Atkins (Däne, lügt nicht) von den Pretty Maids wedelt seine Mähne (damit tut sich Herr Kiske ein wenig schwerer), post wie ein Held und animiert die Meute erfolgreich zur aktiven Begleitung des Geschehens. Auch bei dem folgenden „Unchain The Light“ – auf Konserve nicht mein Fall, live kommt das Teil durchaus gut rüber – setzt Atkins sein eher raues Organ bestens in Szene und kontrastiert wirkungsvoll mit der Überschallstimme von Michael Kiske. Offenbar will sich Tobi heute nicht zuletzt aus dem Fundus der aktuellen Scheibe bedienen, denn mit „A Restless Heart“ zieht er gleich die nächste Krachernummer aus dem „Ghostlights“-Hut – und einen weiteren Sänger gleich dazu.

Ronnie Atkins - MEHR BILDER

Bob Catley gibt mit seinen 69 Lenzen den Elder Statesman, mit farbiger Sonnenbrille, Punkthemd und Knautschgesicht sieht er aus wie eine Kreuzung aus Ozzy und Udo Lindenberg, macht lustige Gesten („der kommt noch aus der Ära vor der Pommesgabel“, notieren wir) und witzige Klänge (eh! uh!)  – aber die Stimmbänder halten wie zu seligen „On A Storyteller’s Night“-Magnum-Zeiten, so dass das Stück in seiner ganzen Pracht erstrahlen kann. „Ist schon unglaublich, wie viele Hammersongs der Tobi schon rausgehauen hat!“ – wo Kollege und Hammerwurfexperte Sebbo Recht hat, liegt er richtig. Zumal er zwar über Bande sogar ein Weggefährte des Herrn Sammet ist, da seine in fränkischen Lokalkreisen gefeierte Kombo Desyre einmal für die Fuldaer (mit das genialste deutsche Wort ever!!) Edguy einsprang, als die absagen mussten. Ist ein paar Jahre her. Stimmt aber. Kühles Zeug! Catley hält sich einstweilen abwechselnd an allen Musikern fest (oder stützt sie, wie wir das wohlwollend interpretieren) und singt (und das ist entscheidend) „The Great Mystery“ a) alleine und b) absolut überzeugend. Tobi kehrt alsbald wieder und stellt fest, München habe ja den Ruf, keine Metal-Stadt zu sein (den hat bestenfalls Dotzeheim oder Wanne-Eickel), er könne das in keinster Weise bestätigen – dann scherzt er kurz über Andi Borg, bevor es mit „The Scarecrow“ massiv rhythmisch zur Sache geht. Hier darf nun der nächste Gastvokalist ran ans Mikro: die einzig wahre Nordmanntanne Jorn Lande sieht mit blonder Mähne und Bart aus wie ein Wikinger, dräut finster ins Rund und gibt uns den Ronnie James Dio, dass es eine Art hat. Ganz groß, der Herr, in der Tat! Und zu „Promised Land“ gesellt sich dann der endgültig letzte Zaungast hinzu: der als „Mr Bigmouth“ titulierte Eric Martin schaut wie gewohnt ein wenig wunderlich aus mit seinem roten Strickschal, den er offenbar im Dr. Who Garagenflohmarkt gekauft hat, und nach dem Testosteron-Monster aus dem Norden wirkt der Ami fast ein wenig metro (also nicht das mit der U-Bahn, das andere) – wie dem auch sei, auch dieser Kollege singt gänzlich famos und treibt auch den einen oder anderen Spaß – z.B. stellt er fest, dass heute endlich mal ein paar ordentliche Damen im Publikum seien und nicht nur ranzige Männer.

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„I want to hear the frauleins!“, ruft er uns freudig zu, ja, so machen wir das gerne, und jetzt weiter bitte. „Dying For An Angel“, im Original mit Gastvocals von Scorpions-Frontdiva Klaus Meine, kracht ordentlich ins Kontor, bevor uns Tobi nochmals zusichert, wie knorke er es findet, heute hier in München auf den Brettern stehen zu dürfen. In 995 von 1000 Städten hätte man in dem Fall  - Amanda Sommerville und Langhans Herbie haben heute Abend was besseres zu tun - wohl abgesagt, z.B. in Zwickau (hat er gesagt, nicht ich), aber für uns haben sie flott Ersatz gesucht und auch gefunden. Wir lassen das mal so stehen und nehmen ein musikalisch wundervolles „Farewell“ vom allerersten Avantasia-Album aller Zeiten zur Kenntnis, aber Leute!!! Auch wenn der da oben das vormacht: diese vermaledeiten Winke-Arme gehören zu Pur, und nicht hierher!! Ich erwäge schon ein neues Leibchen mit der Aufschrift „Winken ist nicht Metal“. Könnte gut werden. „Shelter From The Rain“ rauscht, unterstützt von den Herren Kiske und Catley, ordentlich rein, bevor dann „The Story Ain’t Over“ einen wunderbaren Glanzpunkt setzt. Ganz großes Breitwandkino, diese schmissige Weise. Mr (not so) pretty maids Atkinks versucht sich nun an „Bohemian Rhapsody“ (das lassen wir lieber mal, gell), aber bei „Twisted Mind“ räumen er und Eric Martin gewaltig ab, und mit „Reach Out For The Light“ darf sich Meister Kiske nochmals mit der ersten Nummer präsentieren, die er seinerzeit nach einer längeren Auszeit wieder für ein metallisches Werk beisteuerte, wie Musiklexikon Sebbo zu berichten weiß, wobei er am Songende herumwedelt wie ein Orang Utan (also nicht Kollege Sebbo). Und jetzt dann in der Tat einer meiner Favoriten, „the title track!“, wie Tobi das namensgebende Stück „Avantasia“ ankündigt: kraftvoll, groß, melodisch, mit einem massiven Refrain vor dem Herren.

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Genial! „Das macht hier wirklich Spaß!“, wird Herr Sammet nicht müde das zu betonen, aber jetzt sei doch die Zeit für den letzten Song, und der ist nicht das, was andere Bands jetzt machen würden – also ihren größten Hit, der in Antenne Bayern rauf und runter läuft, nein: „Wir sind Metal, und wir spielen jetzt eine Nummer vom neuen Album, die nie im Radio läuft und 12 Minuten dauert!“ Gesagt, getan, und mit „Let The Storm Descend Upon You“ servieren sie uns den zweifelsohne besten, langen, komplexen und brillanten Beitrag von „Ghostlights“. Was ein Brett, die Herrschaften! Herr Kiske ist sichtlich ebenso beeindruckt und filmt das Geschehen vom Bühnenrand, kurze Pause, die das Publikum zu dem aus der EM sattsam bekannten „Hu!“Wikinger-Ruder-Ruf der isländischen Fans nutzt. Tobi führt gut gelaunt aus, der folgende Song sei der einzige, mit dem man jemals in den Top Ten gelandet sei, und das habe nicht jedem Altfan gefallen – egal, „Lost In Space“ von 2007 kommt kaum durch den Soundbrei durch, der hier besonders grenzwertig ausfällt, und kann dennoch einiges reißen heute. Nach einem fulminanten „Sign Of The Cross / Angels“, bei dem alle Sänger nochmal auf der Balustrade erscheinen – „das hat fast etwas von Sesamstraße“, stellt Kulturkenner Sebbes fest, und man kann es nicht ganz abstreiten – verabschiedet uns der Tross in die laue Sommernacht. Das kann man machen. Ach was, das sollte man dringend machen. Tobis Einfallsreichtum als Songschreiber, seine professionelle Truppe (darunter Produzenten-Tausendsassa Sascha Paeth an der Gitarre) und die schiere Vielzahl von faszinierenden Stimmen machen ein Avantasia-Konzert immer zum Leckerbissen. Und das für satte zweieinhalb Stunden, 19 Songs, ohne Solo-Einlagen und Firlefanz. Das ist eben Fuldaer Qualität (einmal muss es noch sein). Ach ja, Fussball war auch. Portugal hat gewonnen, die Großleinwand im Andechser Zelt nebenan führte uns noch die zweite Halbzeit vor.