Kürbissuppe am späten Nachmittag: wir feiern Erntedank mit Helloween

12.11.2017, Pumpkins United Tour
Zenith München
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Pumpkins United! Als vor einigen Monaten diese Nachricht die Runde machte, war jeder, der in den frühen 80ern aufwachsen durfte, mehr als freudig erregt. Und nachdem sich in der Folge nicht nur eine schlichte Reunion, sondern ein regelrechtes Familienfest ankündigte, gab es keinen Zweifel mehr: da müssen wir dabei sein. Und meine Herren, was dürfen wir vermelden: Pumpkins fly free!

„23 Jahre ist jetzt her, dass ich mit diesen freundlichen Herren hier zuletzt auf einer Bühne stand.“ Wir rechnen schnell nach und stellen fest, dass der gut aufgelegte Kollege in Hoodie und Lederjacke da oben Recht hat. Immerhin kehrte Michael Kiske der Kombo 1993 nach dem Tiefpunkt „Chameleon“ den Rücken, nachdem Mastermind Kai Hansen schon 1988 die Biege gemacht hatte. In den Folgejahren wanderte das einstige Melodic-Speed-Aushängeschild mit neuem Fronter Andi Deris immer mehr in Richtung melodischem Hard Rock – als solches sicherlich mit respektablem Output, aber die bahnbrechenden „Keeper Of The Seven Keys“-Alben, die 1987 und 1988 zu den meistverkauften Metal-Scheiben avancierten, blieben leider nur eine wohlige Erinnerung.

Zu Recht: nicht nur lieferten diese Werke mit „Dr. Stein“ sogar eine Top-Ten-Single – nichts weniger als einen bis heute einflussreichen Meilenstein des deutschen und auch internationalen Heavy Metal hatte man da geschaffen, mit Trademarks, die unverkennbar waren: Hochgeschwindigkeit, melodisches Riffing, hymnische Refrains und ein markerschütternd hoher Gesang. Eben jene Elemente, die in der Grunge-Tristesse der 90er in tiefe Ungnade fielen, als Nuschelgesang, Weltschmerz, Drei-Akkord-Lieder und Holzfällerhemden en vogue waren, kamen dann Ende der 90er Jahre wieder zu Ehren, als Hammerfall mit „Glory To The Brave“ den traditionellen Tönen frönten und die Rückkehr des traditionellen Heavy Metal einläuteten. Auch die ehemaligen Helloweenies machten sich erste Avancen, nach den Streitereien der 90er zeigten sich Michael Kiske und Kai Hansen 2011 bei Unisonic in trauter Einigkeit, und auch bei Avantasia stellte Herr Kiske seine ungebrochene Stimmgewalt unter Beweis. 2013 tourte die Deris-Ausgabe von Helloween schließlich gemeinsam mit Hansens Gamma Ray – eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis man sich endgültig zusammenraufte und den Wunschtraum aller Kutten- und (ex-)Dauerwellenträger erfüllte. Und dabei sollte niemand auf der Strecke bleiben: nein, man nahm einfach alle alten Weggefährten mit auf die Reise (mit Ausnahme von Roland Grapow, der 1988 Kai Hansen ersetzt hatte und 2001 in Richtung Masterplan davonschwirrte).

Somit kündigt sich also wahrlich Großes an, wenn Helloween unter dem Motto Pumpkins United einige ausgewählte Stadien der Welt beehren und dabei eine Reise durch die komplette Bandgeschichte präsentieren. Früh, fast schon familiengerecht geht es los an diesem Sonntag, wir finden uns um 17.00 im Zenith ein, wo man die wartende Meute bereits durch die Pforten lässt. Wir sprinten wie üblich nach vorne und wollen uns die Bändchen holen, die zum Verweilen vor dem ersten Wellenbrecher berechtigen – und gehen leer aus, denn hier und heute gibt es diese organisatorischen Regeln wohl nicht. Nun denn, dann stellen wir uns eben einfach so hin, betrachten die weit nach vorne hinausgebaute Bühne, den hübsch drapierten „Pumpkins United“-Vorhang und vor allem die angereisten Schlachtenbummler. Im Gegensatz zur fröhlichen Generationenmischung, die man bei Metal-Konzerten mittlerweile oft konstatieren darf, regiert hier allerdings klar das old school-Auditorium: Langhaarige, oder vielmehr solche, die das früher waren, geben den Ton an und offenbaren einen wohl doch in der Regel eher bürgerlichen Lebenswandel, der sich auch in der Leibesfülle ausdrückt: „Gibt’s die T-Shirts überhaupt kleiner als XL?“, fragt sich einer unserer Gastsympathisanten, und wir stellen fest, hierfür gäbe es hier eher begrenzte Nachfrage. Aber genug der Sozialstudien, um 18.45 ertönt das Intro „Let Me Entertain You“ von Robert Wilhelm, die gigantische Videoleinwand erwacht zum Leben, und die Protagonisten des Abends erscheinen nach und nach.

Die Bühne wird geziert von einem monumentalen (aufblasbaren) Kürbis, in dem Schlagwerker Daniel Loeble (an Bord seit 2005) thront, aber der erste Szenenapplaus gilt natürlich Meister Hansen, als der die ersten Takte des epischen Werks anstimmt, das nach meinem bescheidenen Dafürhalten immer noch ihre Sternstunde ist: mit dem komplexen, heftigen und überlangen „Halloween“ steigen sie gleich standesgemäß ins Set sein und sorgen für Begeisterung allenthalben. Über die Leinwände flimmern Szenen aus Horrorfilmen aller Couleur (ich notiere zufrieden auch Nosferatu), aber jetzt Augen auf den Kürbis: denn da stehen nun Andi Deris und Michael Kiske, die sich die Gesangsdienste hier paritätisch teilen. Der Sound ist für Zenith-Verhältnisse sehr ordentlich, also sind wir gespannt, ob man sich in die nötigen Höhen schraubt – und ja, man tut es, hier ist alles in bester Ordnung. Zum Instrumental-Part in der Mitte schlendert Herr Kiske nun nach vorne, gefolgt von einem eher stürmenden Herrn Hansen – auch wenn der Zahn der Zeit an beiden genagt hat (der gute Kai wirkt wie ein fahrender Spielmann, Michael K. sieht seinen Bildern auf den Keeper-Alben eher entfernt ähnlich), steht die Front wie eine Eins. Anfangs wirkt der Original-Shouter etwas lustlos, entpuppt sich aber bald als jovial, klatscht mit der ersten Reihe ab und feuert den Heldentenor (wahlweise Falsett) beeindruckend ins Rund. Was ein Auftakt! So richtig falsch machen können sie eigentlich nichts mehr ab jetzt, der wichtigste Song ist mit Bravour absolviert, und mit „Dr. Stein“ legen sie gleich eine ordentliche Mitsing-Hymne nach, die vom Cover der damaligen Single untermalt wird, durchbrochen von Szenen aus dem wunderbaren Karloff-Frankenstein (und den mitzusingenden Text-Zeilen, spaßig). Die Menge ist begeistert, wir sind es ebenso und schauen nun gerne zu, wie die Herren Kiske und Deris sich als gut gelaunte Conférenciers entpuppen – von Rivalität keine Spur, man scheint Freude an der Sache zu haben. Erst einmal machen wir einen Stimmungstest, der ein wenig wirkt wie stand up-Comedy – Lachen Sie mit Andi und Michi, sozusagen, und Humor war ja schon immer eine Stärke der Hamburger Jungs (auch wenn Herr Deris ein Baden-Württemberger ist). „Drei Stunden stehen uns bevor!“, informiert uns Herr Deris nun, der Blick auf die Setlist trog also nicht – ein episches Event wird das also.

Nun stellt man uns Seth und Doc vor, die uns heute durchs Programm führen: zwei Cartoon-Helloween-Männchen auf der Leinwand, die jedes Bandmitglied nacheinander auf die Schippe nehmen und auf einer gewaltigen Juke-Box die meisten Songs humorig andeuten. Sehr schöne Idee, die mit „I’m Alive“ gleich in die nächste Runde geht – Kiske schnappt sich eine Helloween-Polen-Flagge, hängt sich ans Schlagwerk und intoniert tadellos weiter. „Ah ja, der Keeper, das war eine gute Zeit“, schwadroniert Herr Deris im Anschluss, „ich bin froh, dass der Kiske dabei ist, das Zeug ist so sauschwer zu singen!“ Hut ab vor so viel Selbsterkenntnis: im direkten Vergleich liegt das Ausnahmetalent Kiske stimmlich um Längen vor dem lieben Andi, der sicherlich ein guter Hard Rock-Sänger ist, aber an die Qualitäten seines Vorgängers eben nicht heranreicht. Aber die Ausflüge in seine Bandhistorie sind ihm natürlich gegönnt, nach der Keeper-Auftakt-Attacke folgt mit „If I could Fly“ ein nettes Stück aus dem Jahr 2000 – zu weich sei diese Ballade, dachte man anfangs. Ganz hübsch, aber nicht Helloween, sagen wir da. „Are You Metal?“ fragte uns Herr Deris schon beim Bang Your Head, wir beantworten dies zwar gerne positiv, aber der Song fällt trotz stimmiger Video-Inszenierung gegen die mächtige Eröffnung einfach ab. Gitarrist Sascha Gerstner, mit dabei seit dem Abgang von Roland Grapow, kommt einstweilen immer besser zur Geltung – er sieht zwar aus wie ein junger Charlie Sheen, der seine The Cure-Frisur einmal zu oft aus dem Autofenster gehalten hat, aber er greift immer beherzter ins Geschehen ein und sammelt unablässig Sympathiepunkte. Womit erneut bewiesen ist, dass drei Gitarren eben doch bestens harmonieren können, wie das Iron Maiden ja schon seit Jahren vormachen.

Nach einer weiteren Cartoon-Einlage kommt mit „Rise And Fall“ wieder eine „Keeper“-Nummer an die Reihe, zu der Herr Kiske launig referiert: „Ach, damals hatte ich wallende blonde Haare…“ – diese Pracht ist vergangen, aber die Töne trifft er fulminant, der gute. „Waiting For The Thunder“ und „Perfect Gentleman“ bietet dann wieder die solide Deris-Kost, der mit Zylinder, Glitzerfrack und Gehstock einen auf Alice Cooper macht, während sich Michael Weikath an der Gitarre wohl doch etwas unterfordert fühlt – die große Rampensau war der Michi ja noch nie, aber heute wirkt er doch etwas arg unbeteiligt. Und über sein Beinkleid wird noch zu sprechen sein. Aber jetzt geht es dann in die diametral andere Richtung, die beiden Zeichenfiguren präsentieren uns Trompeten und Stadtmauern: ja, es ist Zeit für einen Überschallflug mit Kai Hansen. In einem kompakten, aber nicht zu kurzen Medley prügeln sie jetzt die pfeilschnellen melodischen Granaten des Erstlings „Walls Of Jericho“ in die Menge, angefangen mit „Starlight“ über das brachiale „Ride The Sky“ und „Judas“ bis hin zur ultimativen Mitsing-Hymne „Heavy Metal (Is The Law)“, der mich auf ewig an unsere Abi-Reise nach Italien erinnern wird, als zum Gruppenfoto im Wasser einer unserer Mitstreiter ein markerschütterndes, aus diesem Song entlehntes „Heavy!! Metal!!“ schmetterte. Auch wenn Herr Hansen nie der begnadete Sänger war, die Energie und positive Aggression dieser Nummern bläst heute einfach alles weg. Wow! Nur „Phantoms Of Death“ würde zur Perfektion fehlen, und natürlich die Flipper-Hommage „Gorgar“…aber sei’s drum, wir prüfen erst einmal, wie unsere von Herrn Hansen gefertigte neue Fönfrisur sitzt.

Das Duo Deris und Kiske nimmt einstweilen auf weißen Hockern vorne Platz und parliert locker in Showmaster-Manier. „Ja, der Hansen – das eben war mein Lieblings-Hansen! Der hat fünf Batterien im Hintern!“, grinst ein Kiske, der sich seit der Avantasia-Tour eine neue Lederjacke gegönnt hat. „Jetzt kommt aber was echt softes“, führt Deris aus, und mit „Forever and One“ treten sie dann in der Tat ein wenig auf die Bremse, während Herrn Kiskes Haupt im Scheinwerferlicht schimmert wie ein zunehmender Halbmond. Die nächste Nummer habe er im zarten Alter von 18 Jahren eingesungen, erzählt er uns jetzt, und geschrieben habe sie der „Michi“ da hinten: die Power-Ballade „A Tale That Wasn’t Right“ brilliert heute mit wunderbarer Melodie und vor allem herausragendem Gesang. Zauberhaft. „I Can“ bietet dann grundsoliden Riff-Hard Rock, bevor eines der ganz wenigen Drum-Solos folgt, die nicht in die Kategorie „In der Zeit hätte ich besser die Socken zusammengelegt“ fallen: zu Video-Szenen eines Solos von Original-Drummer Ingo Schwichtenberg, der an Depressionen litt und 1995 freiwillig aus dem Leben schied, spielt Dani Loeble live mit, wodurch eine einfühlsame und ehrliche Hommage an einen verlorenen Weggefährten entsteht. Schön. „A Little Time“ marschiert danach äußerst gut daher, mit sperrigem Mittelteil inklusive Weckern, und mit „Why?“ kommt das „Master Of The Rings“-Album von 1994 zu Ehren – Herr Weikath marschiert dabei nach vorne, und wir müssen konstatieren, dass seine an eine Lederhose erinnernde Beinklamotte doch ein wenig unglücklich gewählt scheint. Aber ein Künstler darf das, auch wenn wir gemeinsam beschließen, dem eher nicht nachzueifern. „Sole Survivor“ und „Power“ gehen in Ordnung, und Meister Deris erzählt nun, den nun folgenden Song habe er als erstes Helloween-Stück überhaupt gehört damals, als „ich 3 Jahre alt war“.

Ob die Altersangabe passt, das wollen wir nicht bewerten, „How Many Tears“ in voller epischer Länge, gesungen im Wechsel von Deris und Kai Hansen, reißt in jedem Fall alles nieder. Ganz groß! Kurz ist nun Schicht im Schacht, aber die „Happy Happy Helloween“-Chöre sind offenbar laut genug, dass man sich nochmals herbeilässt und mit „Eagle Fly Free“ die letzte Keeper-Runde einläutet. Zum ersten Mal an diesem Abend kommt Michael Kiske ein wenig an stimmliche Grenzen, rettet die Nummer aber doch noch über die Ziellinie, was mit lauten „Kiske! Kiske“-Rufen quittiert wird. „Hey, München ist noch wach!“, freut sich der Angesprochene, und nun folgt dann das opulenteste Werk der Mannschaft: „Keeper Of The Seven Keys“ geht über die kompletten 13 Minuten. Musikalisch abwechslungsreich und üppig – aber Herrn Kiske geht nun endgültig die Puste aus, er merkt das selbst und winkt lachend ab: drei Stunden Kopfstimme fordern irgendwann ihren Tribut. Wir notieren das mehr als wohlwollend und freuen uns über die bislang gezeigte Högschdleischdung. „Future World“ brennt dann nochmal das massive Gesangsfeuerwerk ab (und wird von einem Pumpkinhead in Judge Dredd-Uniform visuell passend untermalt), genau wie der treffend gewählte Rausschmeißer „I Want Out“, zu dem sie dann erst übergroße Kürbis-Ballons in die Luft werfen und uns dann mit Tonnen von Konfetti beschießen. Wir schauen auf die Uhr: 178 Minuten, gut, das runden wir mal zu 180 auf – das Kürbis-Kommando vorne verbeugt sich höflich und ist dann verschwunden. In Interviews ließen sie ja schon durchblicken, dass man nach der Tour erst einmal schauen will, wie es weitergeht. Wir empfehlen das gleiche Vorgehen wie bei Dirkschneider und Guns n’Roses: einfach weiter touren. Wir kommen wieder. Ganz bestimmt. Dann aber bitte mit „Gorgar“.

Helloween Setlist Zenith, Munich, Germany 2017, Pumpkins United World Tour 2017/2018